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Psychosomatik: Der Mensch als Schnittstelle von Polaritäten

Kapitel 12
Hans Thomas Hakl im Gespräch mit Marc Melchert.
Psychosomatik: Der Mensch als Schnittstelle von Polaritäten.

Dieser Text wurde publiziert im Buch: “Octagon, Die Suche nach Vollkommenheit”, 2016, Verlag “scientia nova – Verlag neue Wissenschaft”

HTH: Lieber Marc, wir kennen uns an die vierzig Jahre und seitdem Du Dich als Mediziner auf die Psychotherapie spezialisiert hast, habe ich Dir bereits unzählige Fragen gestellt. Von Deinen Antworten habe ich zweifellos immens profitiert.

MM: Das freut mich zu hören. Auch ich profitierte viel von unseren Gesprächen. Deine Kenntnisse in diversen Bereichen und Deine Fähigkeit, Dinge in einen großen Kontext zu stellen, haben die Art, wie ich denke und arbeite mit geprägt.

HTH: Den großen Kontext erstrebe ich wohl eher nur, als ihn tatsächlich zu verwirklichen. Aber nun wollte ich auch den Leserinnen und Lesern dieses Sammelbandes die Möglichkeit geben, an Deinem Wissen teilzuhaben. Ein Fachgebiet von Dir ist die Psychosomatik und davon sind wir ja alle betroffen und zwar, würde ich sagen, jeden Tag. Das führt mich zur ersten Frage. Wie definierst Du Psychosomatik?

MM: Da muss ich zuerst rückfragen. Wie definierst Du Psychosomatik?

HTH: Für mich ist Psychosomatik das Wechselspiel zwischen Körper und Geist bzw. Geist und Körper in einem kreisförmigen Aufstieg oder Abstieg. Der Endpunkt wird nun zum neuen Anfangspunkt, nur eine Etage höher oder tiefer und immer so weiter. Daraus entsteht eine Spirale, die nach oben oder nach unten führen kann.

MM: Dieses Bild gefällt mir sehr gut. Der Begriff Psychosomatik wird meiner Meinung nach häufig in einer falschen Art verwendet: Ein Fehler in der Psyche verursacht eine Störung im Körper. Analog gibt es in diesem Sinne auch eine somato-psychische Wirkung: Ein somatisches Problem verursacht eine Störung in der Psyche. Krank sein stört die Stimmung. Das tönt logisch, aber so einfach ist das nicht. Jeder Mensch hat seine eigene Art und Intensität, wie diese Wechselwirkungen stattfinden. Das Ursache-Wirkung-Prinzip ist „altes Testament“, da geht es um ein Verursacherprinzip, also um Schuld. Ist der Fehler im Körper, ist man ein vom Schicksal Betroffener, das Schicksal ist damit eine Schuld, die man einlösen muss. Ist der Fehler in der Psyche, ist man selber schuld. In extremis wird die Krankheit als Strafe für Fehler oder Sünden verstanden.

HTH: So weit sind wir also gar nicht voneinander entfernt, wenn ich Dich recht verstehe. Aber bitte fahre fort mit Deiner mehr differenzierenden Sichtweise.

MM: Der Mensch ist weit mehr als ein Reagenzglas, in welchem sich Ursache und Wirkung abspielen und je nach Ingredienzien eine andere Mischung oder ein Farbwechsel entsteht. Ich betrachte den Menschen als eine Schnittstelle von diversen Polaritäten. Vor allem gibt es die geistige und die materielle Dimension, die im Menschen zusammenkommen. Dann gibt es die körperlichen und die psychischen Funktionen, die zusammenspielen und in Wechselwirkung stehen.

HTH: Bitte etwas genauer.

MM: Ich betrachte die Psychosomatik als eine Beziehung zwischen der Psyche und dem Körper. Es geht also nicht um eine Wirkung des Einen auf das Andere, sondern um die Frage, wie stehen die beiden in Beziehung zueinander. Die Beziehung ist das dritte Element. So betrachtet entstehen neue Fragen: Was macht die Psyche, wenn im Körper etwas nicht optimal läuft? Wie verhält sich der Körper, wenn die Psyche unter Druck steht? Verschlimmert eine negative Selbstwahrnehmung die gestörte Funktion des Körpers? Gibt es Akzeptanz für Dysfunktion? Werden Schuld und Schamgefühl evoziert, sobald etwas nicht optimal abläuft? Das sind Fragen, die auf die Beziehungsqualität des Einen zum Anderen hinweisen. Es ist die Beziehung, die gut oder schlecht ist, die gelingt oder dysfunktional ist.

HTH: Ist wirklich jeder Mensch davon betroffen oder gibt es so stabile Personen, dass diese Beziehung so gut wie nicht gestört werden kann?

MM: Die Seele steht in Beziehung zum Körper und der Körper steht in Beziehung zur Seele. Die Qualität dieser Beziehung ist individuell verschieden. Jeder Mensch hat eine eigene Art seine Subjekt-Objekt-Beziehungen zu gestalten. Wenn ich analysiere, wie ein Mensch mit sich und seinem Umfeld umgeht, kann ich vermuten, wie er damit umgehen wird, wenn etwas in seiner Seele oder in seinem Körper nicht erwartungsgemäß verläuft. Er wird mit seinem Schmerz, mit seiner Krankheit, mit seiner Trauer genauso umgehen, wie mit seinen Mitmenschen und wie mit seiner Arbeit oder wie mit seinem Arzt. Sein Bewertungssystem erfasst alle Bereiche seines Wesens. Wie im Äußeren so im Inneren!

HTH: Gib mir ein Beispiel.

MM: Bin ich traurig und Trauer passt nicht in mein Selbstbild, wird diese Trauer zu einem Störfaktor. Die schlechte Bewertung der Trauer ist ein zusätzlicher Stress und verstärkt die Belastung von Seele und Körper. Anders sieht es aus, wenn ich Trauer als zu mir gehörend akzeptieren kann, und ich fürsorglich mit mir umgehe. Zum Beispiel kann ich in die Natur wandern gehen und erleben, dass die Aktivität des Körpers zu einer Entspannung führt und meine Stimmung besser wird. Unser Wertsystem entscheidet, was wir aus den Empfindungen der Seele oder der Wahrnehmung des Körpers machen. Unser Gehirn ist andauernd am Interpretieren der Wahrnehmung und diese Interpretation ist geprägt von Erlebtem und Gelerntem.
Ich möchte das gerne noch am Beispiel vom sogenannten Stress erklären: Belastung im Alltag, Beruf und in persönlichen Angelegenheiten wird sehr individuell erlebt. Je nachdem wie wir die Belastungen interpretieren und bewerten, werden sie ganz anders erlebt und ertragen. Stress mit positiver Wertung ist Ausdruck von Vitalität, es ist ein „Eustress“ (positiver Stress). Wird der gleiche Stress mit dem Gefühl von Sinnlosigkeit oder mit dem Gefühl des dauernden Ungenügens bewertet, wird er als Belastung erlebt, es ist ein „Dysstress“ (negativer Stress). Der Eustress ist belebend, der Dysstress ist belastend und auf die Dauer macht er krank.

HTH: Siehst Du Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Menschen?

MM: Weniger zwischen jung und alt, eher zwischen bewusst und unbewusst lebend. Je mehr ein Mensch über sich selber nachdenkt, und je mehr ein Mensch sich in ein größeres System stellen kann, desto besser ist die Beziehungsqualität zu seinen inneren Prozessen. Selbsterfahrung und Selbstbewusstheit helfen uns, die Beziehungsqualität zu verbessern. Therapeuten unterstützen uns dabei durch Einsicht in die eigene Person.

HTH: Was geschieht, wenn man auf die psychosomatischen Symptome überhaupt nicht reagiert?

MM: Die Symptome sind da, sie leben, sie zeigen sich. Man kann diese verleugnen oder nicht akzeptieren. Das sind aber lediglich individuelle Variationen einer schlechten Beziehungsqualität. Ist die Beziehung schlecht, so ist es wie bei einem Kind, dem man die Beachtung verweigert, oder das man missachtet. Das Kind wird lauter und aggressiver: es erzwingt fehlende Aufmerksamkeit. Auch unbeachtete Symptome werden lauter, aggressiver, zwingender. Zuviel Beachtung oder falsche Bewertung können ebenso störend sein. Ein Zuviel an Beachtung verwöhnt, schränkt die Motivation ein und der nötige Lernprozess wird vermieden. Falsche Wertung und Beschämung hemmen die Neugierde, welche dann als wichtiger Antrieb für Veränderungen fehlt. Die Symptome brauchen ein richtiges Maß an Beachtung und adäquate Fürsorge.

HTH: Wie stehst Du zu Psychopharmaka?

MM: Psychopharmaka können Prozesse verunmöglichen oder aber Prozesse ermöglichen. Meistens ist die Krankheit das Problem und nicht das Psychopharmakon. Außer die Mittel werden aus unlauteren Motiven verabreicht. Heilmittel wirken oder wirken nicht oder wirken falsch. Es braucht Geduld und Erfahrung. Wie bei jeder Therapie gilt auch hier die Entscheidung, was soll getan werden, was soll besser nicht getan werden. Aus dem Dao kennen wir das „wei wu wei“ (tun nicht tun). Es ist sehr wichtig, immer die Frage zu stellen: was ist in dieser Situation richtig? Zuviel Angst kann eine Psychotherapie verunmöglichen, diese muss also durch Medikamente gemildert werden, damit eine Therapie überhaupt möglich wird. Anderseits fördert Angst den Wunsch nach Veränderung und die Erkenntnisfähigkeit. Die Angst ist der Weg zu den Emotionen. Ein Zuviel an Medikamenten kann diesen Weg und den Wunsch nach Reifung einschlafen lassen.

HTH: Sehr interessant. Das ist eine neue Sicht für mich. Aber es gibt ja auch Pflanzenmittel, die eine großartige, empirisch bestätigte und an Universitäten geprüfte Wirkung entfalten. Ich erinnere mich an eine von Dir empfohlene Trockenextrakt-Mischung aus Baldrianwurzel und Hopfenzapfen, die auch von großen Pharmakonzernen angeboten wird und herkömmlichen Schlafmitteln nicht nachsteht.

MM: Auch hier geht es um Beziehungsqualität. Die Moleküle treten in Beziehung zu den Rezeptoren. Es ist egal ob es synthetische oder pflanzliche Moleküle sind. Die Frage ist: gibt es eine Beziehung und wie ist die Qualität dieser Beziehung. Die Wirkung soll möglichst berechenbar sein und mehr erwünschte als unerwünschte Veränderungen bewirken. Am schädlichsten sind Vorurteile und Dogmen, diese stören immer. Motivation und Hoffnung dagegen sind eine wertvolle Unterstützung. Es gibt wissenschaftlich fundierte Hinweise, dass die Beziehung des Arztes zum Patienten einen Einfluss darauf hat, wie das Medikament wirken wird.

HTH: Du wirfst schon wieder mein wohl zu naives Weltbild über den Haufen. Danke. Etwas anderes. Du beschäftigst Dich auch mit Zen-Buddhismus. Gibt es da Zusammenhänge mit der Psychosomatik?

MM: Es ist genau dieses Zen-Buddhistische Denken, das meine Ansichten wesentlich geprägt hat. Ein zentrales Anliegen im Zen ist das Erkennen, dass wir immer in einer Polarität leben und diese nicht aufzulösen ist. Wir meinen, wir müssten uns für den einen oder anderen Pol entscheiden. Wir versuchen, den einen Pol festzuhalten und den anderen loszulassen. In Wahrheit ist es aber so, dass immer beide Pole gleichzeitig wirken. Das Entscheidende ist die Beziehung der beiden Pole zueinander. Die Pole bilden einen Raum und in diesem Raum der Polarität verweilen wir. Wir können uns auf keine Seite hin bewegen, ohne dass nicht auch auf der anderen Seite etwas geschieht. Die beiden Pole stehen in einer Beziehung zueinander, sind aber auch gleichzeitig für sich alleine stehend. Unsere Aufgabe ist es, zwischen den Polen hin und her zu pendeln, um so eine Mitte zu evozieren. Diese Mitte ist weder das Eine noch das Andere, die Mitte ist sowohl das Eine als auch das Andere. Diese Mitte können wir nie erreichen, das ist die Leerheit, das Nicht-Nichts. Wir pendeln um diese Mitte herum, ein ständiges Üben und Suchen.

HTH: Hervorragend! Entschuldige bitte meine unwissenschaftliche Begeisterung über Deine Worte. Das ist eine der grundlegendsten Erkenntnisse für Lebensführung allgemein. Das sollte man sich immer vor Augen halten, bis es verstanden und gleichsam in jede Zelle des Körpers eingegangen ist. Aber wann wird die Politik das beherzigen, die sich meist an einem Pol festkrallen will und daher immer den Gegenpol als Feind braucht?

MM: Deine Zustimmung freut mich. Aber zurück zu unserem Thema. Genau so geht das auch mit der Polarität von Seele und Körper. Wir pendeln hin und her und es ist die Beziehung des einen Pols zum anderen, die entscheidet, wie elegant und angenehm dieses Pendeln ist, oder wie harzig und stockend die Bewegung ist. Wenn ich in einem kausalen System bin, werde ich immer versuchen einen Pol zu besitzen, festzuhalten. Als Reaktion darauf wird der andere Pol stärker und die Spannung wird größer. „Nicht festhalten und nicht vermeiden“, dieses wichtige Prinzip im Zen gilt für die beiden Seiten einer Polarität. Die Psyche und der Körper, an beiden nicht festkleben und beide nicht verleugnen.

HTH: Hast Du auch hier ein praktisches Beispiel?

MM: Je negativer ich eine eingeschränkte Funktion meines Körpers bewerte, je mehr Spannung erzeuge ich. Wenn ich Schmerzen habe und diese als einen Makel oder sogar als eine Schande betrachte, verschlechtert sich meine psychische Befindlichkeit. Es ist nicht der Schmerz, der mir verunmöglicht, eine gute Stimmung zu haben, es ist mein Bewertungssystem. Es ist die Beziehung, die schlecht ist und darum mehr Probleme verursacht. Habe ich eine gute Beziehung zu meinem Körper, kann ich den Schmerz annehmen und überlegen, was mir hilft. Bin ich fürsorglich zu mir, wird meine Stimmung wesentlich besser sein, als wenn ich mich ärgere oder schäme. Hier noch ein Beispiel aus der Forschung: Patienten mit chronischem Tinnitus leiden stärker, je nachdem wie das Symptom bewertet wird. Es gibt eine Wahrnehmung des Geräusches und eine Wertung des Geräusches. Es sind zwei verschiedene Anteile im Gehirn aktiviert und beide zusammen bestimmen die Qualität und Quantität des Leidens. Anders gesagt: das Leiden ist das Resultat von Geräusch plus dessen Bewertung.

HTH: Weise Worte. Wenn ich nur fähig wäre, sie auch umzusetzen! Und was bedeutet das für den Arzt?

MM: In der Polarität pendeln heißt, die Frage zu stellen, was bedeutet das Seelische für den Körper, und was bedeutet das Körperliche für die Seele. Wie stehen die beiden zueinander in guten und in schlechten Situationen. Es geht um die Beziehung, das dritte Element, und das ist der Raum, der zwischen den Polen entsteht. Die Glühbirne leuchtet dann, wenn die Pole der Stromzufuhr zusammen in Beziehung gesetzt werden. Wir sind immer Körper UND Seele. Heilung geschieht in diesem Raum, in diesem Beziehungsfeld. Es geht darum, die Beziehungsqualität und die Beziehungsfähigkeit zu verbessern.

HTH: Was heißt das praktisch?

MM: Der Therapeut soll das Beziehungsfeld erforschen und die Beziehungsqualität des Patienten verstehen. Dazu braucht es eine bewusst erlebte Beziehung des Arztes zu seinem Patienten. Die wissenschaftliche Psychotherapieforschung konnte aufzeigen, dass die Qualität der Beziehung des Therapeuten zum Klienten wichtiger ist als die angewandte Methode. Die Qualität der Beziehung und die Empathiefähigkeit sind die einzig bewiesenen Wirkfaktoren, während zwischen den verschiedenen Schulen kein signifikanter Unterschied in der Wirkung bewiesen werden konnte.

HTH: Meine intellektuelle oder auch intuitive Begeisterung für Deine Ausführungen hast Du ja gespürt. Aber das bleibt noch auf theoretischem Terrain. Daher die direkte Frage: Was kann ich selbst praktisch tun, um meine Körper-Geist-Beziehung zu verbessern?

MM: Das Wichtigste ist die genaue Beobachtung dessen, was in mir abläuft. Es soll mir immer besser gelingen zu unterscheiden, was ist Wahrnehmung und was ist Interpretation: die beiden erkennen, auseinander halten und sich mit keinem der beiden identifizieren. Das braucht Übung, Achtsamkeit und Wertfreiheit.

HTH: Beim Qi Gong ist ebenfalls andauernd von den Polaritäten die Rede. Keine Übung kann gemacht werden, ohne dass sie zwischen zwei Polaritäten entstünde. Wenn ich mich also strecke, habe ich einen oberen Pol und einen unteren Pol. Die Übung entwickelt sich dann selbsttätig dazwischen. Man tut nichts selbst oder gar mit Kraft (welch ein Unterschied zu gewöhnlichen Streckübungen!). Es WIRD getan: wei wu wei. Die bewirkende Energie ist das Qi. Hier kommt also noch neben Körper und Seele als Drittes die Energie dazu. Was sagst Du dazu?

MM: Das chinesische Dao empfiehlt, in der Polarität des Handelns und nicht Handelns hin und her zu pendeln. Die Essenz des Handelns ist das Motiv. Das Pendeln in der Vielfalt der möglichen Motive, das heißt die Bewusstheit der Motive, führt in die Nähe der Mitte. Die Mitte des wei wu wei ist absichtsloses Handeln, Handeln ohne Motiv. Die Motivation wird durch Wertvorstellungen bestimmt, so betrachtet, ist in der Mitte unbewertetes Handeln. Je weniger Wertung, desto besser wird die Beziehungsqualität. Qi, Raum, Feld, Energie, Beziehung, wie wir das Dritte auch benennen wollen, entscheidend ist deren Qualität. Dafür suchen und üben wir!

HTH: Wie ist die Problematik bei sogenannten „psychischen“ Schmerzen, wo also keine körperliche Ursache festgestellt werden kann, es aber doch der „Körper“ ist, der weh tut?

MM: Das ist ein lokales Geschehen im Gehirn. Eine Erinnerung oder eine Hirnaktivität ohne Afferenz (ohne Erregung, die aus der Peripherie dem Zentralnervensystem zugeführt wird). Das Telefon klingelt, ohne dass jemand anruft.

HTH: Der Schlaf ist ein besonderes Phänomen, das psychosomatisch „reguliert“ erscheint. Was kannst Du dazu sagen?

MM: Der Schlaf hat sehr viel mit dem Thema der Spannung und Entspannung zu tun. Steht ein Mensch im Laufe des Tages unter dauernder physischer und psychischer Anspannung, kann danach kaum eine Entspannung stattfinden. Die Elastizität geht verloren, das Pendel erlahmt. Dauert diese konstante Anspannung über lange Zeit an, kann es zu einem Zusammenbruch kommen, und es entsteht eine übermäßige Entspannung oder besser gesagt „Nicht-Spannung“. Im Alltag ist es eine Schlafstörung, doch wenn das über Jahre anhält, führt es zu einer Depression. Heute nennt man das ein „Burnout“. Es geht also darum, immer in der Spannung und Entspannung hin und her zu pendeln. Das müssen wir andauernd üben! Auch hier geht es um die Beziehungsqualität der Spannung mit der Entspannung. Die beiden dürfen sich nicht den Platz streitig machen, sie müssen einander gut mögen und einander gegenseitig Platz einräumen. Ich muss dafür genügend Raum schaffen.

HTH: Auch hier müssen wir also zwischen zwei Polen hin-und-her pendeln, zwischen Aktivität und Loslassen. Leider scheint es aber so zu sein, dass wir nur zwischen unterschiedlichen Aktivitäten hin-und-her pendeln. Die große Frage für die Praxis: Wie kann man das ändern, wenn für uns heute das Hauptproblem im Loslassen besteht? Zu leicht verwechselt man nämlich das Loslassen mit einem bodenlosen Fall ins Nichts, wo alles auslässt. Im kombinierten chinesischen Yin-Yang-zeichen (taijitsu) ist im dunklen Feld auch immer ein Rest von Helligkeit vorhanden, so wie auch im hellen Teil noch ein wenig Dunkelheit Platz findet. Es muss also (so meine Qi Gong-Lehrerin) auch in der Entspannung immer Achtsamkeit erhalten bleiben, damit sich das Rückpendeln wiederum ganz ohne Anstrengung einstellen kann. Wie bei einem Streichinstrument muss die Saite ständig eine Grundspannung aufweisen, sonst gibt es keine Melodie. Was meinst Du dazu?

MM: Das Loslassen bleibt uns nicht erspart! Das Pendeln bedeutet ja ein konstantes loslassen des jeweiligen Zustandes, um in den nächsten hinein zu pendeln. Einer der Kernsätze des Zen ist „nicht festhalten  –  nicht vermeiden“. Das gilt für beide Pole! Es beschreibt am besten die Bewegung des Pendelns. Das Konstante daran ist die Achtsamkeit, diese zeigt mir auf, wo ich bin und wo der nächste Pendelschlag hin soll. Die Pole werden nicht aufgelöst, sie bleiben autonom und werden miteinander in Beziehung gesetzt. Ich übernehme das Bild der Musikinstrumente: Der Klang des Orchesters entsteht durch ein Zusammenspiel, wobei jedes Instrument für sich selber tönt.

HTH: Erlaube mir noch eine letzte Frage: Was sagst Du zum Atem? Es ist ja eine bekannte Tatsache, dass bei Aufregung der Atem stockt, worauf man verstärkt einatmet, aber zu wenig ausatmet, was zu noch mehr Aufregung führt und in einem abwärts gerichteten Teufelskreis enden kann. Hast Du auch hier ein schönes Bild, das beruhigt und Abhilfe schafft?

MM: Da sprichst Du ein ganz wichtiges Thema an. Die Atmung ist nicht nur eines der essentiellen Körperfunktionen, sie ist auch ein schönes Bespiel für die Psychosomatik. Psychische Erregung, Stress, Angst und depressive Verstimmung führen zu einer zu schnellen und zu flachen Atmung, das nennt man eine Hyperventilation, das heißt eine übertriebene Atmung. Lass mich erklären was dabei geschieht: Die Frequenz der Atmung ist ganz entscheidend für die Konzentration des benötigten Sauerstoffs (O2), und des zu entsorgenden Kohlendioxids (CO2). Die Hyperventilation stört dieses Gleichgewicht und erzeugt eine hohe Sauerstoff-Konzentration, was eine Verengung der Blutgefäße zur Folge hat. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass eine zu große Atemtätigkeit, trotz hoher Sauerstoffkonzentration im Blut, zu einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff führt. Der medizinische Begriff dafür ist: „Hyperventilatorische Hypoxie“: ein Zuviel an Atmung erzeugt ein zu Wenig an Sauerstoff im Versorgungsgebiet. Eine zweite Folge der Hyperventilation ist eine Veränderung der Kalziumkonzentration, was zu einer Veränderung in der Zellmembran führt. Die Folge davon ist eine Übererregbarkeit des Nervensystems und der Muskulatur. Sehr viele Symptome, die man als psychosomatische oder funktionelle Symptome bezeichnet, früher auch „hysterische Symptome“ genannt, haben letztendlich mit der Fehlatmung zu tun. Das vegetative Nervensystem kommt durch Fehlspannung aus dem Gleichgewicht und es entsteht eine „vegetative Dystonie“. Diese falsche Steuerung der autonomen Körperregulationen, ist ein wesentlicher Aspekt der Psychosomatik. Die sich selber regulierenden Prozesse kommen aus dem Rhythmus. Es entsteht ein chaotischer Klang, die Musik tönt falsch!
Die atemtherapeutischen Heilmethoden, seien es traditionale Methoden wie Yoga und Meditation oder moderne säkularisierte Formen wie die „Atemtherapie nach Mittendorf“, die „Buteyko-Methode“ oder das „Autogene Training“, sie alle zielen darauf hin, den Atem zu regulieren. Es geht also nicht nur um ein Pendeln, es geht auch darum in einer adäquaten Art und Weise zu pendeln. Mit oder ohne spirituellen Hintergrund haben alle Methoden eines gemeinsam: sie sollen selbstwirksam sein und so die Selbstbewusstheit fördern. Wir hören die Musik, die in Körper und Geist gespielt wird und je besser wir diese Musik hören, um so besser können wir den Takt halten. Leider ist das viel leichter gesagt als getan. Mechanistische, sich nicht selbst initiierende (dem eigenen Körper angepasste und vertrauende) Atemübungen schaden oft mehr als sie nützen und führen leicht zur Hyperventilation.
Ich möchte als Zusammenfassung dieses Gesprächs die Atmung als Analogie verwenden. Die Atmung besteht vordergründig aus zwei Komponenten: dem Einatem und dem Ausatem. Genauer betrachtet sind es jedoch drei Komponenten: es gibt noch die Atempause. Das ist der Moment zwischen dem Ein- und Ausatmen. Es ist der Moment, wo beides ist und gleichzeitig beides nicht ist. Analog dazu gibt es nicht nur Körper und Psyche, es gibt auch das dritte Element: die Beziehung der beiden zueinander. Der entstandene Raum in der Polarität von Seele und Körper bestimmt die Beziehungsqualität. Dieser Raum ist weder das Eine noch das Andere, er ist sowohl das Eine wie auch das Andere. Das nennen wir Psychosomatik.

HTH: Mit diesen Worten hast Du den Kreis geschlossen. Danke Dir sehr für Deine eingehenden Ausführungen. Leider genügt es nicht, sie nur zu lesen. Sie müssen in den Untergrund sinken, um dann wieder neu aufzusteigen und wirksam zu werden. Polarität eben.


Marc Melchert:
… geboren 1951 in Genf, aufgewachsen in Genf, Mailand und Zürich. Seit meiner Jugend interessiere ich mich für unterschiedliche Welt und Menschenbilder. Ich habe mich mittels Bücher und Gesprächen mit den zentralen Lebensfragen auseinandergesetzt. Psychologie, Philosophie, Zen-Buddhismus, Religionswissenschaft, Esoterik und Astrologie faszinierten mich gleichermaßen. Für mich war immer wieder die Frage wichtig, wie sich die Lehren unterscheiden und wo sie analog sind. Mit dreißig Jahren begann ich den zweiten Bildungsweg und mit vierzig schloss ich das Medizinstudium ab. Nach kurzer Tätigkeit als Arzt folgte die Weiterbildung in Psychiatrie und Psychotherapie.
Seit 1992 arbeite ich in meiner Praxis als Psychotherapeut. Ich bin Eklektiker geblieben! Mehr denn je bin ich fasziniert von der Vielfalt an Modellen und Schulen, welche den Menschen und dessen Heilsweg beschreiben, und immer noch schreibe und diskutiere ich gerne darüber.

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