Hans Thomas Hakl spricht über das Buch: «The Analyst»
Peter Stickland & Marc Melchert
The Analyst
London, 77 books, 2015
Diese Rezension wurde publiziert in: «Gnostika» (Heft 57, Dez. 2015).
Der erste Anschein, dass es sich hier um einen Roman, also eine kreative literarische Erzählung, handeln könnte, täuscht. Der schmale Band beinhaltet allzu viel Wirklichkeit, das heißt leidvolle Selbsterfahrung und entspricht eher einem intimen Tagebuch mit einer Rahmenhandlung – vielleicht um wenigstens etwas Distanz zu wahren.
Sie ist schnell erzählt: ein Psychoanalytiker (Stefan) lernt durch einen schwierigen Patienten (will seinen Namen nicht bekanntgeben und nennt sich Mr. A.) , der unter einer obsessiven Liebesbeziehung mit einer Frau (Mrs. X) leidet, die er einmal als real und dann wieder als fiktiv bezeichnet), seine eigenen Probleme mit Frauen zu entkrampfen und ganzheitlicher zu werden. Dabei hinterfragt er provokant die bekannten psychologischen Therapien und nimmt Anleihen außerhalb der „Klostermauern“ der orthodoxen Lehren, so z.B. bei Reflexionen über Kunst, beim Zen-Buddhismus und in der Anthropologie. Deswegen ist eine gewöhnliche „Besprechung“ des Buches kaum zielführend und ich will mich, „zu Nutz und Frommen der Leser“ langer Zitate bedienen, um ihnen Anstoß für eigene Überlegungen zu liefern. Darin sehe ich die Wichtigkeit des Buches.
Aus der Anthropologie will das ich erste lange Zitat vorbringen bzw. übersetzen: Es handelt sich hier um den Bericht eines einheimischen Sozialarbeiters aus Ruanda, der uns seine Erfahrungen mit westlichen Psychologen näherbringt:
„Wir hatten eine Menge Probleme mit den westlichen Psychologen, die sofort nach dem Völkermord hierher kamen. Wir mussten sie einfach bitten, wieder zu gehen. Sie hatten eine Behandlungsmethode, bei der man nicht draußen an der Sonne saß, wo man sich gleich besser fühlt. Es gab auch keine Musik und keine Trommeln, wozu man hätte tanzen können ja überhaupt nichts, um das Blut wieder in Schwung zu bringen. Es gab kein Verständnis dafür, dass sich jeder den Tag freigenommen hatte, damit so die gesamte Dorfgemeinschaft zusammenkommen konnte, um den Geist wieder zu beleben und Freude zu schenken. Man wollte auch nicht anerkennen, dass die Trauer von Außen in uns eingedrungen war und etwas war, was man tatsächlich auch wieder aus dem Inneren vertreiben konnte. Statt dessen riefen sie alle Bewohner, einen nach dem anderen einzeln zu sich in stickige kleine Zimmer und ließ sie dort ungefähr eine Stunde herumsitzen und über die schlimmen Dinge reden, die sie erlebt hatten. Da mussten wir sie einfach bitten, wieder zu gehen“.
Eingefahrene Bahnen hinterfragen und sich einen Spiegel vorhalten, heißt die Devise der Schrift. Das ist natürlich nicht immer lustig, da wir uns immer exklusiv für das eine oder das andere entscheiden wollen. Auch dazu ein Zitat:
„Ich muss mehr über Polaritäten nachdenken. Probleme entstehen dann, wenn wir den einen Pol dem anderen vorziehen. Wir fühlen uns dann nämlich gegenüber dem benachteiligten Pol schuldig. Das Geheimnis besteht darin, zu lernen, alle zwei Pole zu akzeptieren und frei zwischen den beiden hin und her zu pendeln. Aber die Verliererseite zu akzeptieren ist niemals leicht.“
Noch ein Rat dazu: „Ich soll mich nicht rein auf scharfe Definitionen verlassen, denn wenn ich jemals meinem Herzen vertrauen sowie meine Intuition und Feinfühligkeit aufbauen soll, muss ich entspannte Offenheit und Akzeptanz üben. Wir gehen auf die Suche nach unserem Sandkorn, aber nur, um es dann wieder fallen zu lassen. Vergessen, wer wir sind und nur vertrauen.“ (Dazu ein „koan“ von Marc Melchert aus dem Vorspann des Buches: Gehe in die Wüste. Suche das spezielle Sandkorn, das Du bist. Wenn Du das richtige gefunden hast, lass es schnell wieder los.)
Ein weiteres Beispiel aus dem im Buch enthaltenen Kaleidoskop der Gedankensplitter.
„Du hasst jede Art von Konflikten und Du tust alles, um sie zu vermeiden. Du willst Dich mit dem Licht verbünden und das Dunkle verleugnen. Die Vereinigung siehst Du als etwas Gutes und die Trennung als etwas Schlechtes. Aber, wenn Du dem Schlechten ausweichst, willigst Du gleichzeitig ein, auch ohne das Gute zu leben. Du hast Angst davor, Dich zu binden, weil Du Angst vor der Trennung hast. Das sind jedoch die klassischen Polaritäten, die sprichwörtlichen zwei Seiten ein- und derselben Medaille.“
Noch eine grundlegende Überlegung des Hauptdarstellers (Stefan) in diesem „Roman“.
„Normale Handlungen werden nie genügen, unsere Sehnsucht nach Akzeptanz zu befriedigen. Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen den Extremen finden. Wir haben keine Chance zu überleben, wenn wir den Konflikt ausschalten, der notwendigerweise durch unsere Gegensätzlichkeiten entsteht. Ein Gleichgewicht zwischen Festhalten und Loslassen (Bindung/Autonomie) muss entstehen. Wir erhöhen nur ununterbrochen die Bedeutung der Spannung, die sich daraus ergibt, wenn wir beide Dinge zugleich wollen. Bindung/Autonomie ist die Mutter aller Konflikte in unseren Beziehungen. Hier müssen wir unsere Lektionen lernen, wollen das aber nicht so ohne weiteres. Um den Ausgleich von Bindung und Autonomie zu schaffen, müssen wir unser Über-Ich besiegen, wobei uns jedoch unser Ich nicht hilft. Die Substanz, die beide Extreme zum Verschmelzen bringt, ist die Lebenserfahrung.“
Und zum Abschluss: „Bewusstheit und Achtsamkeit haben eine spirituelle Dimension auf dem traditionellen Weg der Selbsterkenntnis. Sie lehrt uns, dass das Selbst in einen größeren Raum von Ursache und Wirkung gestellt werden kann, sobald wir uns der Vernetztheit aller Dinge gewahr werden. Das Ziel besteht darin, uns zu helfen, unsere überbordende Sicht von der eigenen Wichtigkeit zu reduzieren.“
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass der eine Autor des Buches, der Psychotherapeut Marc Melchert, im ersten, eben erschienenen Band von Octagon, über Psychosomatik spricht.
Hans Thomas Hakl talks about the book: ‘The Analyst’
This review was published in: ‘Gnostika’ (issue 57, Dec. 2015).
The first impression that this might be a novel, a creative literary narrative, is deceptive. This slim volume contains far too much reality, i.e. painful self-knowledge, and is more like an intimate diary with a framing story – perhaps to maintain at least some distance.
The story is quickly told: a psychoanalyst (Stefan) learns through a difficult patient (who does not want his name to be revealed and calls himself Mr A.), who suffers from an obsessive love relationship with a woman (Mrs X), which he describes as sometimes real and sometimes fictitious, to relax his own problems with women and to become more holistic. In doing so, he provocatively questions well-known psychological therapies and borrows from outside the ‹monastery walls› of orthodox teaching, for example in reflections on art, Zen Buddhism and anthropology. For this reason, a conventional ‹review› of the book is hardly appropriate, and I want to use long quotations ‹for the benefit and edification of the reader›, to give them food for thought. This is where I see the importance of the book.
I would like to present and translate the first long quotation from the field of anthropology: It is the account of a local social worker from Rwanda who tells of his experiences with Western psychologists: «We had a lot of problems with the Western psychologists who came here immediately after the genocide. We had to ask them to leave. They had a method of treatment that didn’t involve sitting outside in the sun, which makes you feel better straight away. There was no music, no drums to dance to – nothing to get the blood flowing again. There was no understanding that everyone had taken the day off so that the whole village community could come together to revive the spirit and give joy. They also refused to acknowledge that our grief had come from the outside, and that it was something that could be driven out from the inside. Instead, they called everyone one by one into stuffy little rooms and made them sit for about an hour and talk about the terrible things they had experienced. We just had to ask them to leave.
Writing is about questioning ingrained patterns and holding up a mirror to yourself. Of course, this is not always fun because we always want to choose one or the other. Here is another quote:
I need to think more about polarities. Problems arise when we choose one pole over the other. We then feel guilty towards the disadvantaged pole. The secret is to learn to accept both poles and to move freely between them. But it is never easy to accept the losing side.
Another piece of advice: ‹I should not rely only on sharp definitions, because if I ever want to trust my heart and build up my intuition and sensitivity, I have to practice relaxed openness and acceptance. We go in search of our grain of sand, but only to let it go. Forget who we are and just trust. (A koan by Marc Melchert from the preface of the book: Go into the desert. Look for the special grain of sand that you are. When you have found the right one, let it go quickly).
Another example from the kaleidoscope of thought fragments contained in the book.
You hate any kind of conflict and you do everything you can to avoid it. You want to ally yourself with the light and deny the dark. You see unity as something good and separation as something bad. But if you avoid the bad, you also agree to live without the good. You are afraid of commitment because you are afraid of separation. But these are the classic polarities, the proverbial two sides of the same coin.
Another fundamental consideration of the main character (Stefan) in this ’novel›.
Normal actions will never be enough to satisfy our longing for acceptance. We must find a balance between the extremes. We have no chance of survival if we eliminate the conflict that necessarily arises from our contradictions. A balance must be struck between holding on and letting go (attachment/autonomy). We only increase the importance of the tension that arises when we want both things at the same time. Attachment is the mother of all conflicts in our relationships. We need to learn our lessons here, but we don’t want to do it lightly. To achieve a balance between attachment and autonomy we have to conquer our super-ego, but our ego won’t help us. The substance that unites the two extremes is life experience›.
And finally: ‹Awareness and mindfulness have a spiritual dimension to the traditional path of self-knowledge. It teaches us that once we become aware of the interconnectedness of all things, the self can be placed in a larger space of cause and effect. The aim is to help us reduce our excessive sense of self-importance.
I would like to draw attention to the fact that one of the authors of the book, the psychotherapist Marc Melchert, talks about psychosomatics in the first volume of Octagon to be published.

The Analyst als pdf bestellen: marc[at]yodascouch.ch
Verlag: 77books.co.uk»
Auf Amazon: Amazon: The Analyst
Autor der Rezension: Webseite von Hans Thomas Hakl
Zum Jahresende habe ich «The Analyst» gelesen, vieles von Dir und allerlei schillernde Verhalten Lebender oder bestimmter Lebensabschnitte wiedererkannt, mich rühren lassen und köstlich amüsiert! Therapieerfahren wie ich bin, kannte ich den Begriff der Therapiekonzeptbox oder Inkubationsbox bzw. manche Vorstellungen zur therapeutischen Beziehung dennoch nicht wirklich. Mir war es, als würde ich ein Vogelbestimmungsbuch ein paar Jahre nach der Safari lesen. Die Safari war zwar geführt, doch der Zaun zur Wildnis hatte ein groooossses Loch…
Ihr bezieht Euch auf mir unbekannte Quellen, Lehren und Inspirationen (toll, dass sie genannt werden) und gleichzeitig ist mir doch alles sehr vertraut mit den ganzen magischen (synchronistischen) Momenten outside and inside the box.